Wie die RWTH unseren Wohlstand sichern will

08.11.2012

Aachen. Made in Germany ist nach wie vor ein Verkaufs- und erst recht ein Exportschlager, vor allem bei hochwertigen und technisch anspruchsvollen Produkten. Erreicht wird diese hohe Qualität mit - mehr oder weniger - entsprechenden Löhnen. Doch die Welt rückt zusammen und den europäischen Produzenten auf den Pelz, ihr technologischer Vorsprung schmilzt.

 

Da kühl gegenzuhalten ist die nicht gerade triviale Aufgabe des Exzellenzclusters der RWTH Aachen Integrative Produktionstechnik für Hochlohnländer. Es ist dies, soweit man sehen kann, die umfassendste Forschungsinitiative in Europa mit dem Ziel, die Produktion in den Hochlohnländern konkurrenzfähig zu halten.

Das auch in der zweiten Phase des Hochschul-Wettbewerbs bestätigte und für die nächsten fünf Jahre mit weiteren 33 Millionen Euro geförderte Cluster beteiligt im engeren Sinne 25 Professoren der RWTH sowie ihre rund 400 Mitarbeiter aus der Werkstoff- und Produktionstechnik, der Mathematik, der Betriebswirtschaftslehre und sogar der Psychologie. Allein 75 dieser Mitarbeiter werden aus der Fördersumme finanziert. Diese interdisziplinären Teams konzentrieren das, was die Institute dieses Forschungsverbunds - im Kern das Werkzeugmaschinenlabor (WZL) - seit Jahrzehnten in Kooperation mit Unternehmen betreiben: die ständige Optimierung von Produktion in allen Bereichen und Dimensionen.


Roboter denken mit

"Das Schlüsselwort unseres Clusters ist Integrativität", sagt Christian Brecher (43). Professor Brecher, einer der vier Direktoren des WZL, ist Sprecher des Clusters und durch und durch ein Ingenieur alter Aachener Schule. Integration ist an der RWTH zum Schlagwort für alle möglichen Ambitionen geworden. Im Produktionscluster aber wird Integration zunächst einmal in einem engeren, technischen Sinne anschaulich und vor allem auch für die Industrie greifbar gemacht. Die Unternehmen müssen schließlich in der Lage sein, die innovativen Entwicklungen handzuhaben.

Integrative Produktionstechnik überwindet bislang feste Grenzen. So gelten, was je nach Stand der Technik ja auch vernünftig ist, für bestimmte Fertigungen bestimmte Verfahren, Technologien und Werkstoffe über lange Zeit als Standard. Integrative Produktionstechnik hingegen kombiniert verschiedene, bislang getrennte Fertigungstechnologien. Zum Beispiel kann man Werkstoffe, die bisher als nicht umformbar galten, inzwischen mittels der zusätzlichen Technologie Lasertechnik umformen, indem man deren Wärmeenergie nutzt.
Solche Entgrenzung beginnt im Kopf. Es ist ein neues technisches Denken, das Zug um Zug auf alle Parameter angewandt wird. Wo bisher nur Metall eingesetzt wurde, wird Kunststoff getestet; was bisher nur in der Luftfahrt verwandt wurde, wird für den Automobil- oder Anlagenbau, also branchenübergreifend, auf Tauglichkeit geprüft. Ein weiteres wesentliches Feld, das Prinzip der Integration zu nutzen, bietet die Simulation von Fertigungsprozessen.
Die Möglichkeit, mittels virtueller Maschinen die Produktion schon am Computermodell zu optimieren und damit Produktionskosten zu sparen, ist bekannt und relativ weit fortgeschritten. Wirklich neu und ein Ergebnis der Aachener Forschung ist die Möglichkeit, nicht nur Fertigungsverfahren einzeln zu simulieren, sondern die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Verfahren und Werkstoffen berechnen zu können. Futuristisch klingt, und doch schon auf dem Weg in die Realität ist, was die Ingenieure "selbstoptimierende Produktionssysteme" nennen. Gemeint sind Roboter, die sich "selbst den Weg ausdenken", wie sie zum Beispiel Teile an ein Auto montieren. Den Maschinen wird nur noch der Endzustand als Ziel vorgegeben, die Arbeitsschritte dahin optimieren sie alleine. Diese postmoderne Verfahren lässt die Ingenieure derzeit noch ziemlich irritierende Sätze formulieren. So etwa in einem Werbe-Video auf Youtube: "Für die Roboter ist es natürlich wichtig, dass der Mensch versteht, was die Intention des Roboters ist". Um "die Programmierung dem Menschen verständlich zu machen", sagt da ein Mitarbeiter, "verwenden wir in der Implementierung Begriffe, die an den menschlichen Bewegungsapparat erinnern, wie ,hinlangen, greifen, positionieren'". Beim Aufschichten von Legosteinen verstehen sich Mensch und Roboter übrigens schon ganz gut. Der durchwegs integrative Ansatz richtet sich aber nicht nur auf die Technik, sondern auf den gesamten Produktionsprozess, sein Management - und schließlich auf den Markt, auf Nachfrage und Angebot. Wenn Europa nur auf seinen technologischen Vorsprung setzt - der vermutlich inzwischen weniger als die früher postulierten fünf Jahre beträgt- wird es ziemlich sicher bald von China, Indien und/oder Brasilien eingeholt.
Es geht schließlich ums Ganze. Angesichts der sich ungeheuer dynamisierenden globalen Entwicklungen, ökonomisch, ökologisch und sozial, müssen die Unternehmen des gesamten produzierenden Gewerbes Europas zwei entscheidende Anforderungen erfüllen, sagen die Aachener Analytiker: "Sie müssen einerseits auf den Kunden angepasste Produkte zu wettbewerbsfähigen Preisen herstellen und andererseits die schnelle Reaktionsfähigkeit auf marktseitige und soziale Veränderungen bei gleichzeitiger Sicherung der Qualität wahren."

Schulterschluss mit der Industrie

Es nütze diesem Wirtschaftssektor, der fast ein Drittel aller Arbeitnehmer beschäftigt, aber letztlich nichts, beide Positionen teilweise zu erfüllen. Vielmehr müsse die Spannung zwischen beiden Positionen aufgelöst werden. Und dazu sei ein "vertieftes, technologieübergreifendes, ganzheitliches Verständnis komplexer Produktionssysteme essenziell". Auch das ist kein alltagstauglicher Satz. Aber so viel sollte klar geworden sein: Die Aachener Vordenker wollen ein "grundlegend neues Verständnis der produkt- und produktionstechnischen Zusammenhänge" erforschen, um auch in Zukunft durch eine starke produktionstechnisch geprägte Volkswirtschaft unseren Wohlstand nachhaltig sichern zu können.
Ziel ist nicht zuletzt auch die Ausbildung hoch qualifizierter, interdisziplinär und integrativ denkender Nachwuchskräfte. Und "im engen Schulterschluss mit der Industrie" werden die Investitionen in Forschung und Ausbildung auch im Rahmen des gleichnamigen Clusters auf dem Campus Melaten fortgesetzt. Übrigens beileibe nicht nur von den Herren Ingenieuren. Die Geschäfte des Exzellenzclusters werden von einer Frau geführt, von der Oberingenieurin Cathrin Wesch-Potente.